Ich sitze hier … vor mir 67 (siebenundsechzig) Seiten.
Mein Alg II Antrag. Die für Corona vereinfachte Form dieses Antrages besser gesagt.
„Vereinfacht“ klingt nett aus dem Munde der Politiker. Ich dachte, damit ist ein einfacher Weg zu Sozialleistungen in dieser, für viele unverschuldet so schwierigen Zeit, gemeint.
Wenn man in Klischees denken möchte …
Wie soll jemand, der tatsächlich bildungsfern, mit Migrationshintergrund, leichten Defiziten der Intelligenz oder Behinderungen, alt, psychisch krank oder zumindest labil ist, mit Sucht- oder Alkoholproblemen, unter dem Druck häuslicher Gewalt oder sozialer Vernachlässigung dasteht, mit diesen 67 Seiten zurechtkommen.
Ich habe Angst…
Diese Agentur für Arbeit, die mir helfen soll, finanziell mit meinen Kindern nicht unterzugehen, macht mir Angst, schüchtert mich ein mit all diesen Formularen, Anlagen, Papieren.
Jede dieser Fragen auf dem Bogen VA, dem Antrag, zieht andere Bögen nach sich. Im Internet suche ich die mehrseitigen Anlagen WEP, HG, KI, VM, EK, UH3, teilweise mehrfach für jedes meiner Kinder auszufüllen. Die Anlage KDU ist nicht zu finden, ich verzweifle kurz und kreuze etwas falsch an. „Muss ich das jetzt neu ausdrucken?“ schießt es mir durch den Kopf. Ich verwerfe, streiche und korrigiere, auch wenn mir lieber wäre, das hier würde akkurater aussehen, denn diese 67 Seiten Papier kosten Geld und ich bin jetzt Hartzer und noch weit entfernt davon, überhaupt finanzielle Hilfe zu sehen …67 Seiten weit.
Ich bin frustriert …
Berge an Papier verteilen sich, zu einzelnen Stapeln nach jeweiligem Formular geordnet, über die ganze Küchenarbeitsplatte. Den Wohnzimmertisch benötigt meine Tochter für ihre Hausaufgaben. Morgen wird die Lehrerin sicher denken, diese faule Sozialschmarotzermutter hat doch jede Menge Zeit und kümmert sich nicht einmal um die Hausaufgaben ihres Kindes! Zum Staubsaugen und Müll rausbringen bin ich auch noch nicht gekommen, denn ich kämpfe hier um unsere Existenz.
Ich fühle mich klein und elend…
als ich mich spät abends durch alle Fragebögen gearbeitet habe.
Beim Abendessen aus Dosenravioli habe ich mich schon ganz in meiner neuen Hartz VI Rolle gefühlt. Salat und Selbstgekochtes fielen aufgrund überall ausgebreiteter Formulare und Unterlagen heute aus. Die Dose war für Notfälle im Schrank, und wer weiß, wann das erste Geld kommt, und wie lange meine Vorräte halten müssen.
Später, müde am Küchentisch sitzend, schweifen meine Gedanken wieder zu den Unterlagen.
In diesen Fragen, auf all diesen Formularen klingt stets der unausgesprochene Vorwurf mit, ich wolle betrügen, wäre faul, hätte heimlich versteckte Reichtümer oder böse Absichten. Ich werde das Gefühl nicht los, die Agentur für Arbeit erklärt mir bereits beim Ausfüllen des Antrages, mir absolut nicht unvoreingenommen gegenüberzustehen, geschweige denn hilfsbereit oder gar freundlich zu sein. Ich fühle mich angegriffen durch diesen Fragebogen. Immer wieder tauchen Paragraphen zu Kürzungsandrohungen für noch nicht einmal bewilligte Leistungen auf. Ich habe Angst, etwas falsch ausgefüllt zu haben, trotz stundenlanger Mühe, und doch irgendeine Sanktion auf mich zu ziehen. Von diesen Menschen hängt jetzt die Existenz meiner Familie ab.
Ich fühle mich ausgeliefert … in der Falle.
Ich, gestandene Frau von 50 Jahren, mit Abitur, abgeschlossener Berufsausbildung, gut geratenen Kindern, unfreiwillig geschieden. Nicht gezahlter Unterhalt, Corona und schwere Zeiten haben mich an diesen Punkt hier gebracht, staatliche Unterstützung zu benötigen.
Eigentlich habe ich vieles richtig gemacht und sehe mich nicht als jemanden, wie man ihn aus den RTL Doku Trash Soaps über Hartz VI kennt.
Wahrscheinlich wird das Jobcenter mit Schwarzarbeit betrogen und es gibt Menschen, die falsche Vermögensangaben machen.
Aber was ist mit mir?
Was ist mit der Mehrzahl an Antragstellern, denen es schwerfällt, um Hilfe zu bitten, die sich sowieso schon schämen, nicht mehr selbst für sich sorgen zu können?
Schon der Antrag, der Papierwust aus Formularen, Unterformularen, Anlagen und Zugaben klärt die Fronten.
Ich kenne viele Menschen, die diesen vereinfachten Antrag nicht ausfüllen können. Und ich sehe sie nicht, sich vertrauensvoll an ihr Jobcenter zu wenden. Diese Formulare nebst Paragraphen über Sanktionen zur Kürzung des Lebensminimums bei Fehlverhalten machen mehr als deutlich, wer jetzt die Macht hat.
Details dazu, ob z.B. das Kindergeld als Einkommen dem Kind oder mir als Mutter zuzuordnen ist, ob ich das genaue Einkommen meines Exmannes in der Lage bin anzugeben, oder wann meine gerade 8jährige Tochter ihren Schulabschluss macht wird, sind beim Ausfüllen noch die kleinsten Hürden.
Ich muss angeben, wie viel Bargeld meine 15 jährige Tochter in der Tasche hat und mich rechtfertigen, dass meine Älteste in Kürze studieren und nicht lieber in der nächsten Zeitarbeitsfirma ungelernt ihre Bedürftigkeit schnellstmöglich beenden möchte.
Als ich ins Bett gehen will, kommt meine kleine Tochter ins Zimmer. Auch sie kann nicht schlafen. Ein paar Arbeitsblätter soll ich ihr für morgen noch ausdrucken. Und der Lehrer hat gesagt, sie braucht bald ein eigenes Tablet, berichtet sie. Damit tut sich die nächste Baustelle auf und am Drucker stelle ich fest, dass die Druckerpatrone für den Ausdruck der 67 Seiten für das Jobcenter draufgegangen ist.
Autorin: M.H.